Warum wir uns schämen?

Warum wir uns schämen – Anmerkungen zur Evolution des Schamgefühls
von Michael Blume, 21. Mai 2013, 22:05

Unsere Fähigkeit zum Schamgefühl liefert starke Hinweise darauf, dass und wie soziokulturelle Regeln auch schon in vorstaatlichen Zeiten durchgesetzt wurden. Ob es um Kleidungs-, Verhaltens- oder Beziehungsfragen geht – wir verinnerlichen Regeln, für deren Übertretung wir uns laut Auskunft unserer sozialen Umgebung „schämen sollten“.

So mag eine fromme Afghanin tiefste Scham darüber empfinden, dass ein Fremder ihr unbedecktes Haar sehen konnte, wogegen eine Yanomami-Indianerin im Amazonasgebiet auch bei nackten Brüsten nichts zum Schämen findet. Ein gläubiger Sikh in Bremen mag es als große Scham empfinden, dass er nicht durch eigene Arbeit den Lebensunterhalt seiner Familie verdienen kann – während sein Nachbar es als sein gutes Recht empfindet, staatliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen.

Das Schämen ist eine menschliche, biologisch vererbte Universalie – die Regeln, nach denen wir uns schämen, erwerben wir dagegen kulturell.

Aber warum sollten unsere Vorfahren von außen kommende Regeln auch noch emotional in sich aufnehmen? Warum nicht einfach je nach Bedarf „schamlos“ leben? Die Antwort ist die gleiche, die auch die schnelle und spontane Reaktion und sogar das Schmerzempfinden von Männern schon auf bloße Bedrohungen des Hodens erklärt: Auch unsere Gefühle sind so evolviert, dass sie Überleben und Fortpflanzung unserer Vorfahren schützten.

Ein Mensch, der sich aufgrund von Regelverletzungen aufrichtig „schämt“, hat eine größere Chance, die vielen, in seiner sozialen Umgebung überlieferten Regeln einzuhalten und damit seinen „Ruf“ (wissenschaftlich: seine Reputation) in den Augen der anderen zu schützen.

Was in Zeiten von Rechts- und Sozialstaat durchaus stärker ignoriert werden kann, war für die längste Zeit unserer Evolutionsgeschichte schlicht überlebenswichtig: Alleine sank die Lebenserwartung drastisch. Und selbst wenn das Überleben über Jahre gelang – ohne einen Sexualpartner konnten die Gene nicht weiter gegeben werden. Scham war und ist also nicht nur evolutionär funktional, sondern so stark, dass sie wie Liebe und Ekstase auch auf geglaubt Zuschauende (Ahninnen, Geister, Gottheiten usw.) ausgedehnt werden konnte.

Dieser Blogtext ist ein Auszug aus dem sciebook
„Die Evolution von Sexualität und Liebe“

Wie es Charles Darwin selbst in seiner „Abstammung des Menschen“ (1871) beschrieb:

„Offenbar kann jeder mit einem weiten Gewissen seine eigenen Begierden befriedigen, wenn sie nicht mit seinen sozialen Instinkten sich kreuzen, d. h. mit dem Besten Anderer; aber um völlig vor eigenen Vorwürfen sicher zu sein oder wenigstens vor Unbehagen, ist es beinahe notwendig, die Missbilligung seiner Mitmenschen, mag sie gerechtfertigt sein oder nicht, zu vermeiden. Auch darf der Mensch nicht die feststehenden Gewohnheiten seines Lebens, besonders wenn dieselben verständige sind, durchbrechen; denn wenn er dies tut, wird er zuverlässig ein Unbefriedigtsein empfinden; auch muss er gleichzeitig den Tadel des einen Gottes oder der Götter vermeiden, an welchen oder an welche er je nach seiner Kenntnis oder nach seinem Aberglauben glauben mag. In diesem Falle tritt aber oft noch die weitere Furcht vor göttlicher Strafe hinzu.“

Nicht zufällig werden Schamgefühle schon in der Kindheit angelegt und dann gerade auch in der Pubertät eingeübt und ausgeprägt. Wenn von „Mobbing“ und „Cyberstalking“ unter Kindern und Jugendlichen die Rede ist, so wird auch der bloße Schmerz sichtbar, den auch schon junge Menschen einander durch „Beschämen“ in Machtspielen zufügen können. Das Gefühl, den eigenen und fremden Erwartungen nicht mehr gerecht werden zu können kann schnell zu existentieller Verzweiflung führen – und leider sogar manchmal bis in den Selbstmord.

Link zum Artikel.
http://www.scilogs.de/chrono/blog/natur-des-glaubens/evolutionspsychologie/2013-05-21/warum-wir-uns-sch-men-anmerkungen-zur-evolution-des-schamgef-hls

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